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Reportage
Künstlerische Präzision und Ausdruckskraft. Zwei Reportagen über Klang, Bild und das Spiel mit der Wahrnehmung.




KLANGVOLL
Zwischen Proben und Konzertbühne
Im Takt mit Carlos Campos Medina
VON JAKOB ANGELOVSKI
Die Probe – Feinschliff ab Sekunde eins
Es ist 12 Uhr, als Carlos Campos Medina mit seiner Bratsche das NDR Konzerthaus am Maschsee betritt. Heute beginnen für den Bratschisten der NDR Radiophilharmonie die Orchesterproben für das anstehende Sinfoniekonzert. Brahms’ Violinkonzert und Tschaikowskys 3. Suite stehen auf dem Programm. Ersteres spielt die Radiophilharmonie zusammen mit dem Stargeiger Gil Shaham. Viele Stunden haben Campos Medina und seine Kolleginnen und Kollegen zu Hause bereits investiert, um die Stücke einzustudieren. Für die zwei Konzerte im NDR Konzerthaus sowie die zwei Auftritte in Paris und Aix-en-Provence probt das Orchester heute das erste Mal gemeinsam. Es geht direkt um die Feinabstimmung.
Im Konzertsaal ist bereits einiges los. Es herrscht eine freundschaftliche, lockere Stimmung unter den Musikerinnen und Musikern aus 23 Nationen. Sie alle sind nach Hannover gezogen, um in der NDR Radiophilharmonie spielen zu können. „Der Beruf verbindet uns durch unsere Leidenschaft“, sagt Campos Medina. „Viele von uns sind bereit, ihre Heimat und Familie zu verlassen, um einen Ort wie diesen zu finden – einen Ort, an dem wir unserer Leidenschaft nachgehen können. Es ist ein unheimliches Privileg.“
Auf der Bühne stimmen Musikerinnen und Musiker Instrumente, einige unterhalten sich, andere besprechen Passagen in ihren Noten. Dann betritt Stanislav Kochanovsky, der Chefdirigent des in Hannover beheimateten Orchesters, die Bühne. Carlos Campos Medina holt tief Luft, hält seine Bratsche bereit und dann beginnt das Orchester mit der ersten Probe. „Der Moment, in dem das Orchester anstimmt, ist immer etwas Besonderes. Ich empfinde es als wahnsinniges Glück, mit meinen Kolleginnen und Kollegen tagtäglich spielen zu können“, sagt er. Zunächst werden die Stücke einmal durchgespielt, bevor Chefdirigent Kochanovsky im Anschluss in die Feinabstimmung der einzelnen Passagen geht. Gerade die 3. Suite von Tschaikowsky ist sehr anspruchsvoll und verlangt dem Orchester viel ab. Die knappe Vorbereitungszeit von nur zwei Probentagen macht es erforderlich, dass das Orchester heute schon auf den Punkt harmoniert. „Druck spielt bei uns eine große Rolle“, erklärt Campos Medina. „Man hat immer den Anspruch, noch besser zu spielen, den Willen und die Motivation, das Bestmögliche herauszuholen. Die Musikerinnen und Musiker unseres Orchesters sind sehr perfektionistisch.“
Trotz der Schwierigkeit des Stückes strahlt das Orchester schon bei den ersten Durchläufen Selbstbewusstsein aus. Der leere Konzertsaal füllt sich mit imposanten Klängen. An einigen Stellen bittet der Chefdirigent um eine sanftere Dynamik, an anderen um mehr Ausdruck. Campos Medina macht sich Notizen, geht in den kurzen Pausen immer wieder einzelne Passagen durch. „Man muss in jedem Moment wissen: Was ist meine Rolle? Soll ich hervortreten oder mich zurücknehmen? Gleichzeitig darf und soll auch jeder seine Persönlichkeit einbringen. Das ist das Schöne. Es geht darum, sich in den Klang des Orchesters einzufügen und dennoch die eigene Stimme zu bewahren.“ Der Musiker von Gran Canaria weiß auch um die Bedeutung seiner Arbeit. „Gerade wenn die Nachrichten schlecht sind, wird unser Job umso wichtiger. Für die Menschen, die uns zwei Stunden ihrer Zeit schenken, möchten wir etwas schaffen, das sie fühlen lässt. Es gibt kaum noch Momente im Alltag, in denen man sich erlaubt, wirklich zu fühlen. Aber bei einem Konzert ist das möglich“, erklärt Campos Medina. Nach viereinhalb intensiven Stunden endet die Probe für diesen Tag, bevor am nächsten Tag die Generalprobe und zwei Tage später das erste Konzert folgen.
Der Konzertabend – von Anspannung zu Hingabe
Hinter der Bühne ist die Atmosphäre angespannt. Die Musikerinnen und Musiker der NDR Radiophilharmonie bereiten sich auf ihren Auftritt vor. Auch mit dieser Situation geht jeder anders um. Manche der Streicherinnen und Streicher machen Lockerungsübungen für die Hände, viele spielen sich noch ein. Carlos Campos Medina hat sein eigenes Ritual: „Ich brauche etwas Ruhe vor dem Konzert. Bei besonderen Konzerten hilft es mir sehr, mir die Situation vorher im Kopf vorzustellen – wie man reinkommt, wie der Saal aussieht und so weiter.“
Langsam füllt sich der Konzertsaal, bevor das Licht gedimmt und das Orchester mit Applaus empfangen wird. Chefdirigent Stanislav Kochanovsky hebt den Taktstock. Mit dem ersten Einsatz seiner Bratsche taucht Campos Medina in den Klang des Orchesters ein. In diesem Moment geht es nur um die Musik. Um Brahms’ Violinkonzert. Routiniert begleitet das Orchester den Solisten Gil Shaham. Dieser ist sichtlich von der Qualität der NDR Radiophilharmonie begeistert. Als das Publikum applaudiert, bedankt er sich vielmals bei den Musikerinnen und Musikern vom Maschsee. Dann verlässt er die Bühne. Im Mittelpunkt steht jetzt das Orchester mit der technisch so anspruchsvollen 3. Suite Tschaikowskys. Doch die Musikerinnen und Musiker brillieren an diesem Abend auf ganzer Strecke. Die Anspannung scheint wie verflogen. Dem Orchester gelingt es, beim Spielen der dynamischen 3. Suite eine losgelöste Energie zu entfachen. Nach dem letzten Ton bricht ein lang anhaltender und lauter Applaus aus. Auch das Orchester ist sichtlich zufrieden, die Musikerinnen und Musiker umarmen einander. Auch Campos Medina sieht man die Gelöstheit nach der gelungenen Premiere an. Er lächelt. „Es ist wirklich magisch, wenn dieser Moment des Teilens entsteht. Wir üben wochenlang für diesen Augenblick. Und wenn dann beide Seiten – Publikum und Orchester – dieses Gefühl spüren: ‚Das war besonders‘, dann bleibt die Magie eines solchen Abends im Gedächtnis.“
Bis zu 65 Programme spielt die NDR Radiophilharmonie pro Jahr. Die Musikerinnen und Musiker investieren viel, damit die Zuhörenden für ein paar Stunden in eine andere Welt entfliehen und magische Momente erleben können. Momente, die man sonst in den großen Städten dieser Welt erwartet. Aber es gibt sie auch bei uns in Hannover. Am Rudolf-von-Bennigsen-Ufer 22.












GESPIEGELT
Kunst darf kein Luxus sein
Franziska Stünkel, Filmemacherin und Künstlerin, fotografiert seit 15 Jahren für ihre Serie „Coexist“ auf der ganzen Welt. Dabei nimmt sie Spiegelungen und Reflexionen auf Schaufensterglas auf, die von der Koexistenz menschlichen Lebens erzählen. Ich habe sie gefragt: Was ist wirklich Luxus?
VON MAIKE JACOBS
Franziska Stünkel, Filmemacherin und Künstlerin, fotografiert seit 15 Jahren für ihre Serie „Coexist“ auf der ganzen Welt. Dabei nimmt sie Spiegelungen und Reflexionen auf Schaufensterglas auf, die von der Koexistenz menschlichen Lebens erzählen. Ich habe sie gefragt: Was ist wirklich Luxus?
Der wahre Luxus“, sagt die Filmemacherin und Fotografin Franziska Stünkel (51), „wäre ein Leben in einer gerechten Welt.“ Nur acht Prozent der Bevölkerung würden in einer wirklich gesicherten Demokratie leben, sagt sie: „Seit 15 Jahren bin ich für meine Fotoserie ‚Coexist‘ weltweit unterwegs. Da ist mir sehr bewusst geworden, wie wertvoll es ist, in einer Demokratie zu leben, und vor allem auch, wie extrem schützenswert freie Meinungsäußerung ist. Von Luxus zu sprechen ist in diesem Zusammenhang allerdings falsch“, korrigiert sie sich, „Gerechtigkeit ist essenziell.“
Wir reden gemeinsam über das Privileg, hier in Deutschland in einer Demokratie geboren zu sein. Keine Selbstverständlichkeit. Sagen zu können, was wir meinen. Aber: Ist das Luxus? Ist Demokratie Luxus? Darf Demokratie Luxus sein?
„Nein“, sagt Franziska Stünkel und schüttelt den Kopf. „Demokratie ist aus meiner Sicht eine Notwendigkeit.“ Ihr Kinospielfilm „Nahschuss“ basiert auf der letzten Hinrichtung in der DDR 1981. Sie hat sich lange mit dem Thema Diktaturen und autokratische Systeme beschäftigt. „Ich stand während der Drehbuchrecherche viel mit Menschen in Kontakt, die für ihre Meinung ins Gefängnis kamen, die Angst und Willkür erleben mussten.“ Auch jetzt schreibt sie wieder an einem gesellschaftspolitischen Stoff fürs Kino.
Schnell fällt uns ein, was alles kein Luxus sein darf: Freiheit, Frieden, Menschenrechte, Bildung, eine intakte Natur, Gesundheit, Engagement …
Miteinander gibt Kraft
Am Engagement bleiben wir gedanklich hängen. Denn ehrenamtliches Engagement ist ein großes Anliegen der Künstlerin, die in Göttingen geboren, am Steinhuder Meer aufgewachsen ist und – wenn sie nicht gerade unterwegs ist – heute in Hannover lebt. Ihre Zeit, die sie nicht in ihre Kunst steckt, widmet sie ihren Ehrenämtern. All ihren Einsatz für Mitmenschlichkeit und ein unterstützendes Miteinander aufzuzählen, würde diesen Artikel sprengen. Sich zu engagieren, sei für sie ein Gebot der Menschlichkeit, kein Luxus: „Es ist eine herausfordernde Zeit: Viele Menschen haben Angst, es ist eine Zeit der Ohnmacht, der Abschottung und der Grenzen. Man braucht Kraft, dem allen zu begegnen“, sagt Franziska Stünkel. „Das Miteinander im Ehrenamt ist unglaublich wertvoll. Man spürt von Mensch zu Mensch, wie viel Kraft wir uns gegenseitig geben können.“
Das spiegelt auch ihr Lebensfotoprojekt „Coexist“ wider. „Wenn ich Spiegelungen fotografiere, dann zeigt sich in den Bildern ja nicht nur die Welt, in die ich hineinschaue, sondern auch die Welt hinter mir, jenseits meines Blickfeldes. Wir sind nicht nur das, was wir sehen, sondern viel mehr. Wir können uns nicht isoliert betrachten, sondern sind alle miteinander verbunden. Und wenn der Ausstellungsbesucher sich meine Fotos anschaut, dann spiegelt er sich auch auf dem Glas der Fotografie – er wird Teil der Welt.“
Kunst bringt Menschen ins Gespräch
Ist Kunst Luxus? Auch hier kommt ein entschiedenes „Nein“: „Kunst darf kein Luxus sein. Kunst ist aus meiner Sicht Notwendigkeit, Kunst ist ein Weg, den man sich erarbeitet“, sagt sie. „Über Kunst treten wir Menschen in einen Dialog.“
Diesem Dialog eine Stimme zu geben, ist für sie Lebensaufgabe: zehn Jahre hat sie allein an dem Drehbuch für ihren ausgezeichneten Kinofilm „Nahschuss“ gearbeitet, der aktuell in der ZDF-Mediathek zu sehen ist. Und wenn andere so eine lange Zeit für ein Projekt als Luxus ansehen würden, ist für die Regisseurin die Zeit dem geschuldet, ein perfektes Ergebnis zu erreichen. „Mir die Freiheit zu nehmen, die Themen in ihrer Komplexität auszuloten, ist für mich als Künstlerin ein Muss, kein Luxus.“
Kino, Theater und Ausstellungen, das sollten gerade jetzt Orte der Begegnung und Zusammenkunft für alle sein. Räume für Gefühle und Gedankenaustausch – kein Luxusgut. „Kunst ist mutig, berührt, macht wach. Kunst gibt Anstöße für Veränderungen. Kunst kann uns in einer Zeit des Eskapismus dafür begeistern, wieder in die Tiefe zu schauen.“ Kunst führe uns zum Kern zurück – zu uns als Menschen. Und da gibt es für sie doch noch einen Gedanken, sich dem Thema Luxus anzunähern. „Wenn Luxus bedeutet, sich etwas zu gönnen, um aufzutanken, dann sollten wir uns doch das gönnen, was wirklich Kraft gibt: mehr Menschlichkeit.“